Zittern

Autor: Jo

Straßenzüge im Herbstbraun, grau und gelb. Ein alter Mann sitzt an der Wand des U-Bahnhofs Hallesches Tor (U1, U3 und U6) gelehnt und zittert. Ich habe nichts, um das Zittern zu beenden. Doch ich weiß, der Unterschied zwischen mir und ihm ist nicht viel größer als der räumliche Abstand zwischen uns. Ich könnte auch hier sitzen, wären meine Eltern andere Menschen gewesen, hätte ich meine Filter, die mich menschenähnlich wirken lassen, an der falschen Stelle ausgeschaltet oder wäre ich einfach irgendwo falsch abgebogen und hätte mich meinen Suchtpotenzialen hergegeben. Mich und der alte Obdachlose trennen nur ein Schritt und vielleicht 30 Jahre, möglicherweise auch weniger, wer weiß, wie alt man wirklich ist, wenn man obdachlos ist. Mit der Identität verschwimmt auch das Alter, dann kommt eine krächzige und zahnlose Alterslosigkeit. Klar, alte Menschen vor allem haben keine Zähne, Säuglinge aber auch nicht, und irgendwo zwischen diesen Polen bewegt man sich. Merkwürdige Gedanken, die einen kommen auf dem Weg vom Lidl. Ich werfe zwei Euro in den alten Kaffee-to-go-Becher, der am oberen Rand schon abgeranzt ist, vom Obdachlosen und gehe weiter. Ich bin ein Menschensimulant. Daran sollte ich immer denken, bevor ich glaube, dass es mir zu schlecht geht. Ich drehe mich nochmal um. Der Obdachlose schaut mich an. Er schaut mich an, als würde er das ganz genau erkennen, dass ich ein Menschensimulant bin. Als einziger Mensch auf dieser Welt, der mich durchschaut.


Autor: Jo
entstanden am 05. November 23, in der Schreibstube N°1