Detlef Schulze - ASCHE

Er befand sich auf dem falschen Schiff. Nie ist ein Ozean so furchterregend gewesen. Einsetzende Stille schien sich mit den Schrecken des Untergangs zu verbinden und der Untergang mit windloser Zeit, die genau in diesem Moment ihr tickendes Uhrwerk zerbrach: Die Erdmacht, die in zweitausend Seemeilen Entfernung seit Gedenken Halt und Sicherheit verliehen hatte, war aus ihren Tiefen hervorgebrochen.

Man erfuhr es über Funk. Matrosen trugen die Nachricht zu den Passagieren. Ein Riss soll den Kontinent, den das Schiff ansteuerte, in neue Erdteile zerlegt haben. Die Glutmassen, mit Wucht aus dem Erdinneren gehoben, sollen so stark gewesen und so plötzlich über alles gekommen sein, dass Millionen Wesen und Tausende Arten den Notruf nicht mehr vernehmen konnten. Eine Rauchwolke, die derzeit in ätherische Höhen ziehe, trage nun das Omen mehrjähriger Finsternis mit sich. Und von der Bruchstelle des Planeten soll eine Flutwelle ungeheueren Ausmaßes emporgestiegen sein, die ihren Siegeszug bereits angetreten hätte. Welch ein Ausblick!

Seine Hände umklammerten die Reling. Wann die Welle das Schiff erreichen würde, war ungewiss. Es handele sich aber nur um Stunden, so die flüsternden Boten in Uniform. Er schloss die Augen, atmete durch, konnte das Traurige des neuartigen Umstandes nicht wachrufen, blickte wieder hinaus, schluckte und blieb der freie Gefangene einer fernen Ursache, die sich ihm als ungeheure Offenbarung mitgeteilt hatte. Riss, Glutmassen, Zerstörung, Flutwelle - es erschreckte ihn nicht. Das Ziel seiner Reise war bereits der Tod. Nur der Ort hatte sich jetzt geändert. Aus dem Hafen, den er noch erreichen wollte, war nun der Ozean geworden. Die Verlagerung der Koordinaten tat so wenig zur Sache wie die Änderung des Zeitpunkts. Der Tod hatte bereits vor der Reise unwiderruflich für ihn festgestanden. Aber die Entscheidung, es selbst zu vollenden, war ihm nun genommen. Es sei denn, er handelte sofort. Doch das passte nicht zu ihm. Er wollte aus freien Stücken gehen. Dazu gehörte auch der zeremonielle Charakter, den er dem Ritual in seiner Vorstellung verliehen hatte. Aber auch darauf könnte er verzichten. Es galt, sich zu entscheiden. Sich der jetzigen Situation zu beugen, bedeutete, durch übermächtige Naturen gezwungen zu werden. Plötzlich sollte er mit denen in einen Bund treten, die am Leben hingen. Welche Gleichsetzung wäre widersprüchlicher als diese. Dass die sich erbarmenden Mörder, die Viel-Kinderkrieger oder reichlich Verdrängenden, die ängstlich Gepaarten oder traurig sich Verlaufenden, die pragmatisch Tönenden und die kalkuliert Berechnenden sich genau in jenem Augenblick mit ihm verbinden würden, in dem er sich von ihnen verabschieden wollte, wäre nicht nur absurd, es wäre seiner Haltung unwürdig. Ihm wurde schwindlig. Er klammerte sich an das Stahlrohr der Reling und musste sich übergeben.
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Detlef Schulze, geboren 1961 in Kühlungsborn, lebt in Berlin.

Freier Autor und Dramatiker, schreibt Theaterstücke, Hörspiele, Prosatexte und Gedichte. Unter anderem Teilnahme am Berliner Theatertreffen mit BESATZUNG ROM, an den Autorentheatertagen des Schauspielhauses Hannover mit DER AUFBRUCH PHINEUS und am Autorenmarkt Orphtheater Berlin mit JÄCKEL. Veröffentlichung der Erzählung DIE IDEE VON DER ARBEIT in ›Sinn und Form‹. ASCHE ist sein erster Roman.