Was im Innersten schlummert

von Sabine

Im Innersten schlummert das Tier, was sonst. Das Tier ist träge und schläfrig, das Blut rinnt ihm noch von den Lefzen, es leckt sich das rotbraune geronnene mit der langen rosa Zunge vom Maul. Das Maul öffnet sich leicht dabei, das Tier gähnt, die Zunge rollt sich komisch dabei auf. Das Tier öffnet die Augen, erst eines, dann beide, ein schleimiger Film reißt zart über dem glänzenden Augapfel auseinander. Der Blick wird klar, es kuckt mich an, direkt, die Angst pulst durch meine Adern, die Angst und das Adrenalin und die Wut und die Enttäuschungen, die Kränkungen, die Momente, in denen du mich übersehen hast, einfach so, als wäre ich nicht da, hast du deinen Blick durch den Raum wandern lassen und bist nicht an meinem Blick hängen geblieben, dabei habe habe ich dich innerlich angefleht, sieh mich an, hör mich, jetzt, ich bin hier, siehst du das nicht, willst du es nicht sehen?

Das Tier steht langsam auf und schüttelt sich, Vorderteil und Hinterteil drehen sich in entgegengesetzte Richtungen, es ist immer noch träge und schläfrig, aber ich spüre die grausame Kraft, die in ihm wohnt, die sich jetzt ausdehnt und sich Platz schafft und alle beiseite fegt, die ihm im Weg stehen. Das Tier setzt eine Pranke vor die andere, ganz sanft und doch dröhnt jeder Schritt in meinen Ohren. Es bleibt stehen, es duckt sich, die Wirbelsäule biegt sich nach unten durch, die Hinterläufe knicken ein. Für einen nicht endenden Moment steht es da wie eingefroren, keine Bewegung, gar nichts, nur ein ganz leichtes Zittern, ein ganz leichtes Kräuseln der Nüstern, der Atem steht still, der Atem fließt, Sauerstoff wird in die Lunge gepumpt, von der Lunge ins Blut, das Blut rauscht mir in den Ohren, immer und immer, ich halte mir die Ohren zu und kann es nicht stoppen, das Rauschen, das Blut, das Herz pumpt, der Sprung. Der Sprung aus dem Nichts und doch von langer Hand geplant, ein geheimer Plan, ich kenne ihn nicht und weiß, dass er da ist, ich weiß es und kann doch nicht sagen, wie alles weitergeht. Der Sprung ist mächtig und voller Energie und voller Kraft. Das Tier springt dich an und du taumelst nach hinten, das hast du nicht erwartet, oder doch?
Ein fauliger, erdiger Atem schlägt dir entgegen, du hältst die Hände vors Gesicht um dich zu schützen, aber das ist lächerlich, du hast keine Chance, du gehst in die Knie, du bist ganz klein. Ich habe die Macht und ich räche mich, ich räche mich grausam, ich sehe dich wie du klein bist, ich sehe deine Angst und deine Schuld, ich hebe die Schuld auf und zeige sie dir, da, sieh, was du getan hast. Nimm, es ist allein deine Schuld. Das Tier ist satt, es dreht sich weg, sein räudiges Fell, die bedrohlichen Eckzähne, sie ragen heraus und können alles zerreißen, was sich in den Weg stellt, alles.

Das Tier lässt dich stehen, ganz allein, es braucht dich nicht mehr. Jetzt sieht es wieder ganz harmlos aus, ein domestiziertes Haustier, ein Straßenhund, neurotisch, weil er soviel geschlagen wurde, in seinen vielen Leben. Von einer Familie zur anderen, alle wollten ihn retten, und irgendwann griff er alle an. Es dreht sich ein paar mal um sich selbst, legt sich hin, legt sich auf die Seite, bietet die nackte Flanke an, denn wer sollte es angreifen, du ja bestimmt nicht. Du hast um dein Leben gefürchtet, gib es zu. Du hast gewusst, jetzt eine falsche Bewegung und alles ist vorbei. Deine Haut ist dünn und weich, die Zähne des Tiers könnten sie zerfetzen wie fadenscheinige Seide, mürbe und verbraucht vom vielen Tragen, wie schutzlos du bist, wie angreifbar. Besser, du bleibst auf der Hut.


von Sabine.
Entstanden am 02. Juni 24